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Pressemitteilung

Meinungsvielfalt kommt in der wirtschaftspolitischen Beratung der Bundesregierung zu kurz

12. März 2024

+++ Wirtschafts- und finanzpolitische Beratungsgremien der Bundesregierung werden durch hohe personelle Kontinuität und geringe Perspektivenvielfalt geprägt +++ OBS-Studie unterstreicht: eine strikte Austeritätspolitik war bisher stets Fluchtpunkt ihrer Empfehlungen +++ Stimmen gegen Sparmaßnahmen, Sozialstaatsabbau und Deregulierung sind eine Minderheit, Frauen bleiben unterrepräsentiert +++ aktuelle Debatten um eine Aussetzung oder Reform der Schuldenbremse, u.a. im Sachverständigenrat, markieren einen Bruch +++ intellektuelle Schließungsprozesse müssen verhindert, kontroverse Debatten durch Meinungsvielfalt gesichert und der Anschluss an innerwissenschaftliche Diskurse gefunden werden +++

In den vergangenen 40 Jahren fand eine Abkopplung wichtiger wirtschaftspolitischer Beratungsgremien der Bundesregierung von innerwissenschaftlichen und -politischen Debatten statt. Der Sachverständigenrat (SVR) und die Beiräte von Wirtschafts- (BMWK) bzw. Finanzministerium (BMF) entwickelten eine wirtschaftsliberale Schlagseite. Die Folge waren einseitige Empfehlungen austeritätspolitischer Maßnahmen von Sparpolitik, Deregulierung und Flexibilisierung des Arbeitsmarktes sowie Sozialstaatsabbau. Eine Ursache dieser Fehlentwicklung liegt im bisherigen Modus der Besetzung der Gremien. Die aktuellen Differenzen innerhalb und zwischen den Gremien, etwa zu dem Thema Schuldenbremse, könnten den Beginn einer Umbruchphase anzeigen. Das ist ein zentrales Ergebnis der Untersuchung „Schlecht beraten? Die wirtschaftspolitischen Beratungsgremien der Bundesregierung in der Kritik“, die die Otto Brenner Stiftung heute veröffentlich hat.

Ein Forscherteam um Dieter Plehwe (Wissenschaftszentrum Berlin, WZB) hat die Zusammensetzung und Arbeit der Beratungsgremien von 1982 bis 2022 untersucht. „Im Zeitverlauf hat stets eine absolute Mehrheit der Gremienmitglieder austeritätspolitische Maßnahmen befürwortet, nur rund jedes zehnte Mitglied war und ist solchen Maßnahmen gegenüber kritisch eingestellt“, kommentiert Sozialwissenschaftler Plehwe die Ergebnisse. Diese „intellektuelle Engführung“ sei durch die bisherigen Modi der Besetzung begründet. So zeigen „die Ergebnisse, dass akademische Beziehungen in Form von Promotionsbetreuungen Einfluss auf die Berufung von Gremienmitgliedern haben“, führt Mitautor Moritz Neujeffski aus. Knapp jedes vierte Mitglied des BMWK-Beirates war zeitgleich mit dem/der eigenen akademischen Lehrer*in im Gremium aktiv. „Professor*innen ziehen auf diese Weise die eigene wirtschaftswissenschaftliche Denkschule und damit ähnliche wirtschaftspolitische Positionierungen in die Beratungsgremien nach“, so Neujeffski. Langfristige Mitgliedschaften, in den Beiräten von BMF und BMWK durchschnittlich rund 25 Jahre, tragen zusätzlich zur Verstetigung von wirtschaftspolitischen Perspektiven bei.

Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen, dass sich mit Blick auf Universitäten und Forschungsinstitute, in denen die Beiratsmitglieder zum Zeitpunkt ihrer Berufung beschäftigt sind, eine klare Hierarchie herausgebildet hat. „Zehn Institutionen vereinen knapp 42 Prozent der Mitgliedschaften auf sich“, so Plehwe, „außerdem finden wir eine Verengung auf die Disziplin der Wirtschaftswissenschaften“. Während Ökonom*innen auch in den Beiräten anderer Ministerien präsent sind, stellen die Autoren in ihrer Studie fest, dass umgekehrt sozialpolitische Expert*innen oder Politökonom*innen in den untersuchten Wirtschaftsberatungsgremien keine Rolle spielen. Zusätzlich verstärken außeruniversitäre politische und intellektuelle Netzwerke die Gruppenbildung. Austeritätsbefürworter*innen seien in Think Tanks und Netzwerken organisiert, die Verbindungen in mehrere Beiräte aufweisen, lautet ein Befund.

„Spätestens seit der Finanzkrise 2008 ist klar, dass Märkte wieder stärker sozial eingebettet werden müssen, um nicht destruktiv zu wirken“, kritisiert Jupp Legrand, Geschäftsführer der Otto Brenner Stiftung. „Dafür braucht es Beratung auf der Höhe der Zeit, die über den Tellerrand eines neoliberalen Austeritätsparadigmas hinaus auch andere Perspektiven wahrnimmt“. Für Legrand sind es Anzeichen einer entsprechenden Entwicklung, dass das SVR-Mitglied Veronika Grimm mutmaßlich auch aufgrund ihrer marktliberalen Ansichten öffentlich zum Rücktritt aufgefordert wurde. Um die zaghafte Abkehr vom Status quo der vergangenen 40 Jahre zu verstetigen, bedürfe es jedoch einer Modernisierung der Besetzungsregeln, die dauerhafte Perspektivenvielfalt garantiert. Eine zeitliche Begrenzung der Mitgliedschaft ist mehr als geboten – immerhin beriet ein Ökonom das Finanzministerium für 53 Jahre.

Dieter Plehwe / Moritz Neujeffski / Jürgen Nordmann: Schlecht beraten? Die wirtschaftspolitischen Beratungsgremien der Bundesregierung in der Kritik, OBS-Arbeitspapier 65, Frankfurt am Main, März 2024

 

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Kontakt zu den Autoren:

Dr. habil. Dieter Plehwe
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB)
Telefon: +49-160 9706 1490
Email: dieter.plehwe(at)wzb.eu

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