Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
"Bernd Gäbler hat schier Übermenschliches auf sich genommen" – mit diesem fulminanten Einstieg machte Mitte April Willi Winkler seine SZ-LeserInnen auf ein aktuelles OBS-Diskussionspapier aufmerksam. Für "Armutszeugnis", so der Titel unserer Publikation, hatte der Autor über den Jahreswechsel über 100 Stunden sogenannte Doku-Serien von RTL II angeschaut – von "Armes Deutschland – Stempeln oder abrackern" über "Hartz und herzlich" bis hin zu "Zahltag! Ein Koffer voller Chancen". "Im Tarnkleid des Mitgefühls", so Gäbler, "werden ein Extremismus des Elends gepflegt und besonders krasse Charaktere vor die Kamera gelockt". Angehörige der Unterschichten bekommen im "Unterschichtenfernsehen" ein Zerrbild von sich selbst präsentiert – und die übrige Gesellschaft ignoriert das weitgehend: sowohl die Armut selbst, die mitten im reichen Deutschland existiert, als auch die medialen Klischees, die über die Betroffenen verbreitet werden. Dieses kritische Resümee des Bielefelder Medienwissenschaftlers rief die Chefredakteurin von RTL II auf den Plan. Ihre Replik "Sozialdokus bei RTLzwei: Deshalb wollen wir, dass ihr das seht!", Ostermontag (!) über den Mediendienst DWDL veröffentlicht, fährt in 10 Behauptungen so ungefähr alles auf, was vermutlich jemals an Kritik an solchen Formaten geäußert worden ist.
Bemerkenswert aber ist, dass RTL II diesen Gastbeitrag als ihre Stellungnahme zum OBS-Diskussionspapier kommuniziert. Weil kein einziges Mal direkt auf das Papier Bezug genommen, keine einzige Stelle wörtlich zitiert wird und von einer direkten Auseinandersetzung keine Spur ist, entsteht der Eindruck, dass mit vorgefertigten Textbausteinen unspezifisch auf "alle KritikerInnen" und jedwede denkbare Kritik eingeschlagen werden soll. Wer die Einordnung des Themas in dem "Gäbler-Papier", die empirischen Befunde, die kritische Auseinandersetzung mit Alternativen oder die konkreten Forderungen zur Kenntnis genommen hat, wird die blutleere Replik enttäuscht zur Seite legen. Und selbst wenn man wie die RTL II-Chefredaktion der Auffassung ist, Armutszeugnis sei "ein getarntes Meinungsstück" könnte man sich ja doch einer produktiven Auseinandersetzung stellen. Autor und Stiftung laden weiterhin dazu ein und wissen es zu schätzen, dass einige Sender diesen Weg beschreiten wollen.
Wir danken für das Interesse an unserer Arbeit, die wie bei vielen anderen auch schon seit Wochen hauptsächlich aus dem Homeoffice erledigt wird. Wir freuen uns über Ihre Unterstützung, auch finanzielle, und hoffen auf ein gesundes Wiedersehen in der Nach-Corona-Zeit. Bleiben Sie gesund!
Mit freundlichen Grüßen
Das OBS-Team
(Mai 2020)