+++ Wirtschafts- und finanzpolitische Beratungsgremien der Bundesregierung werden durch hohe personelle Kontinuität und geringe Perspektivenvielfalt geprägt +++ OBS-Studie unterstreicht: eine strikte Austeritätspolitik war bisher stets Fluchtpunkt ihrer Empfehlungen +++ Stimmen gegen Sparmaßnahmen, Sozialstaatsabbau und Deregulierung sind eine Minderheit, Frauen bleiben unterrepräsentiert +++ aktuelle Debatten um eine Aussetzung oder Reform der Schuldenbremse, u.a. im Sachverständigenrat, markieren einen Bruch +++ intellektuelle Schließungsprozesse müssen verhindert, kontroverse Debatten durch Meinungsvielfalt gesichert und der Anschluss an innerwissenschaftliche Diskurse gefunden werden +++
In den vergangenen 40 Jahren fand eine Abkopplung wichtiger wirtschaftspolitischer Beratungsgremien der Bundesregierung von innerwissenschaftlichen und -politischen Debatten statt. Der Sachverständigenrat (SVR) und die Beiräte von Wirtschafts- (BMWK) bzw. Finanzministerium (BMF) entwickelten eine wirtschaftsliberale Schlagseite. Die Folge waren einseitige Empfehlungen austeritätspolitischer Maßnahmen von Sparpolitik, Deregulierung und Flexibilisierung des Arbeitsmarktes sowie Sozialstaatsabbau. Eine Ursache dieser Fehlentwicklung liegt im bisherigen Modus der Besetzung der Gremien. Die aktuellen Differenzen innerhalb und zwischen den Gremien, etwa zu dem Thema Schuldenbremse, könnten den Beginn einer Umbruchphase anzeigen. Das ist ein zentrales Ergebnis der Untersuchung „Schlecht beraten? Die wirtschaftspolitischen Beratungsgremien der Bundesregierung in der Kritik“, die die Otto Brenner Stiftung heute veröffentlich hat.
Ein Forscherteam um Dieter Plehwe (Wissenschaftszentrum Berlin, WZB) hat die Zusammensetzung und Arbeit der Beratungsgremien von 1982 bis 2022 untersucht. „Im Zeitverlauf hat stets eine absolute Mehrheit der Gremienmitglieder austeritätspolitische Maßnahmen befürwortet, nur rund jedes zehnte Mitglied war und ist solchen Maßnahmen gegenüber kritisch eingestellt“, kommentiert Sozialwissenschaftler Plehwe die Ergebnisse. Diese „intellektuelle Engführung“ sei durch die bisherigen Modi der Besetzung begründet. So zeigen „die Ergebnisse, dass akademische Beziehungen in Form von Promotionsbetreuungen Einfluss auf die Berufung von Gremienmitgliedern haben“, führt Mitautor Moritz Neujeffski aus. Knapp jedes vierte Mitglied des BMWK-Beirates war zeitgleich mit dem/der eigenen akademischen Lehrer*in im Gremium aktiv. „Professor*innen ziehen auf diese Weise die eigene wirtschaftswissenschaftliche Denkschule und damit ähnliche wirtschaftspolitische Positionierungen in die Beratungsgremien nach“, so Neujeffski. Langfristige Mitgliedschaften, in den Beiräten von BMF und BMWK durchschnittlich rund 25 Jahre, tragen zusätzlich zur Verstetigung von wirtschaftspolitischen Perspektiven bei.