+++ Neue OBS-Studie: Arbeitnehmer*innen nehmen Unterschiede zwischen Ost und West verschieden wahr +++ Ungerechtigkeitsempfinden weiterhin geprägt durch Gefälle bei Arbeitsbedingungen, Einkommen und Rentenhöhe +++ Wahrnehmung der Unterschiede stark abhängig von Nachwendeerfahrungen und Alter +++ Staat, Gewerkschaft oder Individuum: Wer kann Unterschiede ausgleichen? +++ Antwort abhängig vom Alter, einer Gewerkschaftsmitgliedschaft und Politikvertrauen +++ Junge Arbeitnehmer*innen in Ost wie West blicken zuversichtlicher auf Selbstwirksamkeit +++ Qualitative Studie online abrufbar +++
Frankfurt/Main, den 25. Januar 2021 – Die Vereinigung der beiden Teile Deutschlands im Jahr 1990 weckte bei vielen Bürger*innen Freude und Hoffnung. Doch auf die Aufbruchsstimmung der Wendejahre folgten bald Ernüchterung und Enttäuschung. Arbeitsbedingungen, Einkommen und Rentenhöhe zeigen, dass das Land noch immer zwischen Ost und West gespalten ist. Welche Wege und Chancen sehen die Arbeitnehmer*innen, diese Ungleichheiten zu überwinden? Soll der Staat es richten? Was können Gewerkschaften und betriebliche Interessenvertretungen erreichen? Oder bleibt jede*r Einzelne gefordert, seine oder ihre Lage zu verbessern? Die OBS-Studie „,Alleine ist man zerbrechlich‘ – Perspektiven auf die Interessenvertretung von Arbeitnehmer*innen in Ost und West“, vorgelegt von einem Autor*innen-Team um Simon Storks, Jana Faus und Rainer Faus, geht diesen Fragen nach. Die Ergebnisse fußen auf sechs online durchgeführten Fokusgruppen. Die wichtigsten Befunde der qualitativen Untersuchung sind:
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Die Wahrnehmung von Ost-West-Ungleichheiten ist stark von individuellen Erfahrungen abhängig. Ostdeutsche Arbeitnehmer*innen erleben geringere Löhne und schlechtere Arbeitsbedingungen in Ostdeutschland unmittelbar oder indirekt im eigenen Umfeld. Besonders die älteren ostdeutschen Arbeitnehmer*innen fühlen sich benachteiligt und kritisieren deutlich die Unterschiede – ähnlich wie die ostdeutschen Gewerkschaftsmitglieder. Für westdeutsche Arbeitnehmer*innen ist Ost und West in der Regel kein Vergleichsmaßstab, fortbestehende Unterschiede sind ihnen kaum bewusst. „Wir haben bei Löhnen und Arbeitsbedingungen nicht nur ein objektiv messbares West-Ost-Gefälle“, meint Autor Rainer Faus und ergänzt: „Auch in der subjektiven Wahrnehmung zeigt sich nach wie vor ein Unterschied.“
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Die Möglichkeiten zur Durchsetzung von Arbeitnehmer*inneninteressen sowie zur Überwindung von Ost-West-Ungleichheiten werden unterschiedlich gesehen: In Ost wie West machen die Jüngeren in erster Linie Eigenverantwortung und Selbstwirksamkeit stark, Gewerkschaftsmitglieder eher autonome Gestaltungsmacht von Betriebsräten und Gewerkschaften. Ältere westdeutsche Arbeitnehmer*innen setzen nur in begrenzterem Maße auf Eigenverantwortlichkeit und institutionalisierte Interessensvertretung – aber auch nur eingeschränkt auf staatliche Rahmensetzungen. Die älteren ostdeutschen Arbeitnehmer*innen sehen Veränderungen und Verbesserungen in erster Linie als politische Aufgabe, haben aber gleichzeitig in die politischen Akteure nur geringes Vertrauen.
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Während jüngere Arbeitnehmer*innen in Ost- und Westdeutschland wenig Handlungsbedarf im Hinblick auf eine gerechtere Gestaltung von Löhnen und Arbeitsbedingungen sehen, zeigen die älteren Arbeitnehmer*innen in Ost- wie Westdeutschland ein auffälligeres Ungerechtigkeitsempfinden. „Der Blick auf die Daten zeigt: Je älter die Befragten, desto höher das Problembewusstsein für schlechte Arbeitsbedingungen und geringere Löhne“, meint Autor Simon Storks.
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Schließlich zeigt die Untersuchung, dass mit einer Gewerkschaftsmitgliedschaft generell mehr Vertrauen in die Selbstwirksamkeit und autonome Gestaltungsmacht einhergehen. Die Arbeitnehmer*innen ohne Mitgliedschaft zweifeln zwar mitunter an der Durchsetzungskraft von Gewerkschaften. Signalisiert wird aber eine prinzipielle Offenheit und dass Gewerkschaften als unverzichtbar und als positive Errungenschaften für Arbeitnehmer*innen gesehen werden. „Dies ist ein guter Anknüpfungspunkt für Gewerkschaften, um ihre Relevanz und ihre eigene Durchsetzungsstärke auch für nichtorganisierte Arbeitnehmer*innen unter Beweis zu stellen“, ist Studienautorin Jana Faus überzeugt.
Angesichts dieser Ergebnisse und Erkenntnisse – und vor dem Hintergrund des sozialstaatlichen Anspruchs im Grundgesetz, zur Angleichung der Arbeits- und Lebensverhältnisse beizutragen – müsse das Thema fehlende soziale Einheit „mit neuem Elan“ angegangen werden, meint Jupp Legrand, Geschäftsführer der Otto Brenner Stiftung. „Sonst droht aufseiten älterer Bürger*innen womöglich ein noch größerer Vertrauensverlust in die Problemlösungsfähigkeit der Politik“, ergänzt Legrand. „Die Ergebnisse unterstreichen die zentrale Bedeutung der politischen Aufgabe, gleichwertige Arbeitsverhältnisse zu schaffen“, betonen Stiftung und Forschungsgruppe.
Die Befunde der qualitativen Studie beanspruchen keine Repräsentativität. Sie erlauben aber erste Einblicke darin, wie Unterschiede zwischen Ost und West wahrgenommen werden und wer nach Ansicht der Befragten in der Lage ist, diese Unterschiede auszugleichen. In Ost- und Westdeutschland wurden jeweils drei Fokusgruppen durchgeführt: je eine Gruppe mit 18-44-jährigen Arbeitnehmer*innen ohne Gewerkschaftsmitgliedschaft, je eine Gruppe mit 45-65-jährigen Arbeitnehmer*innen ohne Gewerkschaftsmitgliedschaft, je eine Gruppe mit 18-65-jährigen Gewerkschaftsmitgliedern.