+++ Aktueller OBS-Trendreport analysiert die Berichterstattung über Gewalt gegen Frauen in den Jahren 2020 bis 2022 +++ Befund: Gewalttaten gegen Frauen werden hauptsächlich als isolierte Einzeltaten dargestellt, strukturelle Ursachen und Präventionsmöglichkeiten werden nur selten thematisiert +++ Der mediale Fokus liegt auf Tötungsdelikten, andere Gewaltformen wie Körperverletzung oder psychische Gewalt sind stark unterrepräsentiert +++ Besonders bei Partnerschaftsgewalt stehen vermeintliche „Motive“ des Täters im Zentrum, die Perspektive der Opfer kommt kaum zur Sprache +++ Nur zwei Prozent der untersuchten Artikel veröffentlichen Hilfsangebote für Betroffene und Angehörige +++ Ein umfassendes Verständnis für die Hintergründe und Eskalationsdynamiken von Gewalt gegen Frauen wird medial nicht gefördert +++ Das medienpolitische Ziel der Istanbul-Konvention sollte in Selbstregulierungsrichtlinien verankert werden +++
Nicht nur in Politik und Justiz besteht großer Nachholbedarf im Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt, auch die journalistische Praxis offenbart weiterhin deutliche Leerstellen: Eine strukturelle Auseinandersetzung mit der Alltäglichkeit und Vielschichtigkeit von Gewalt gegen Frauen findet in der deutschsprachigen Berichterstattung nur sehr selten statt. Es dominieren Berichte, die Gewalttaten als isolierte Einzelfälle beschreiben und sich meist auf Tötungsdelikte fokussieren, andere Gewaltformen kommen in der medialen Realität zu wenig vor. Im Kontext Partnerschaftsgewalt kommt in nur zehn Prozent der Berichte die Perspektive der Opfer zur Sprache, während fast 50 Prozent die Aufmerksamkeit auf den Täter richten. Das sind zentrale Ergebnisse des Trendreports „‚Tragische Einzelfälle?“, den die Otto Brenner Stiftung (OBS) heute in Frankfurt am Main veröffentlicht hat.
Der Trendreport der Kommunikationswissenschaftlerin Christine Meltzer (Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover) schließt an die Erhebung der Berichterstattung in den Jahren 2015 bis 2019 an, die die Otto Brenner Stiftung gemeinsam mit der Autorin 2021 veröffentlicht hat. Für die aktuelle Studie wurden mit einer quantitativen Inhaltsanalyse 3.172 Artikel untersucht, die 2020 bis 2022 in verschiedenen Medientypen erschienen.
„Einige wenige Tendenzen weisen in die richtige Richtung, insgesamt hat sich im Vergleich zur Vorgängerstudie jedoch nur wenig geändert. Und das ist ein Problem“, stellt Autorin Christine Meltzer fest. In den Jahren 2020 bis 2022 ist im Kontext von Partnerschaftsgewalt gegenüber den Vorjahren etwas häufiger über Körperverletzungen berichtet worden, Gewaltformen wie psychische und finanzielle Kontrolle wurden jedoch kaum thematisiert. Insgesamt bleibt Partnerschaftsgewalt im Vergleich zu ihrem realen Ausmaß in den Medien deutlich unterrepräsentiert. Ernüchternd ist zudem: Im Vergleich zur ersten Erhebung hat die Anzahl der Artikel zugenommen, die sich bei Partnerschaftsgewalt auf die Motive des Täters konzentrieren, die Perspektive der Opfer bleibt medial marginalisiert. In der Gesamtschau wird deutlich: Es gibt ein durchaus hohes Ausmaß an Berichterstattung über Gewalt gegen Frauen, doch Nachrichtenwert erhält diese erst, wenn sie eine extreme Form aufweist.